Das ewig lange Buch, auf Englisch auch noch, das mir von einem Tinder-Match empfohlen wurde, welches keine fünf Wortwechsel lang Bestand hatte, folgt einem Freundesquartett aus dem College durchs ganze Leben, hängt sich dabei aber hauptsächlich an der Geschichte des traumatös verschlossenen und körperlich versehrten Jude St. Francis auf.
Der ist nämlich als Waisenkind, ohne seine Abstammung und Hautfarbe (Race) zu kennen, im Kloster großgeworden, wo er geschlagen und vergewaltigt wurde, dann mit einem der Mönchsbrüder „geflüchtet“, der ihn vergewaltigte und hundertfach prostituierte, von dem er dann weglief, indem er sich bei LKW-Fahrern selbst prostituierte, nur um geschlechtskrank auf einem Parkplatz von einem sogenannten Arzt aufgegabelt zu werden, der ihn zur Genesung in den Keller sperrt und anschließend, natürlich, vergewaltigt, ihm auf einem Fluchtversuch aber auch noch die Beine kaputtfährt, woraufhin Jude noch einmal ins Heim kommt, wo er, Sie ahnen es schon, wiederholt geschlagen und vergewaltigt wird. Schön.
Er trägt neben den zahlreichen körperlichen Leiden also auch einen gehörigen Selbsthass davon, verletzt sich regelmäßig, ausdauernd und notfalls kreativ selbst, studiert aber Jura und ist in seinem Fach, wie die Freunde in ihren (Schauspielerei, Kunst und Architektur, lol), ein absoluter Überflieger ohne jede Art von Rück- oder Fehlschlägen, hyperintelligent und anpassungsfähig ohne Ende, kein Burnout, keine intellektuellen Schranken, aber Hauptsache, noch nie ein Buch über Psychotherapie gelesen und sich gegen jedwede Behandlung verweigern (zugegeben, die auftretenden Ärzte sind nicht gerade Meister ihres Fachs, aber das ist eigentlich niemand in diesem Buch).
Jude bewegt sich asexuell durch die Welt, aber mit Ende dreißig oder so stolpert er dann doch in eine homosexuelle Beziehung, in der er, ich weiß, das klingt jetzt albern, geschlagen und vergewaltigt wird, aber ansonsten ist er, ähnlich wie seine Freunde, in diesem Alter längst Multimillionär, berühmt und gefürchtet, bestens vernetzt in der avantgardistischen New Yorker Chiceria, adoptiert von seinem Jura-Professor undsoweiter. Nach einem kleinen Selbstmordversuch entwickelt sich sogar eine Liebesbeziehung zu dem Schauspielerjugendfreund Willem, und tatsächlich funktioniert das ungeahnt gut, am nächsten stehen sie sich ja seit Jahrezehnten schon, und es kommt auch nur zu einem ganz kleinen bisschen Vergewaltigung, weil Jude sich so schuldig fühlt, aber Willem merkt es dann doch irgendwann und ohne Sex wird alles noch viel besser.
Dann aber stirbt der Schauspieler auf der Höhe seiner Form: Autounfall, und die Moiren geben dem versehrten Jude die Schicksalsfäden in die Hand. Erstaunlich aufrecht kämpft er sich durch diesen Zufallsschlag, übernimmt Sorgearbeit im Bekanntenkreis und leidet zwar, aber doch rational und ohne Selbsthass, ein fieser literarischer Blendertrick, um selbst aus den ausgetrocknetesten Augenhöhlen noch eine Tränenflut herauszuquetschen, bis dann endlich, 53 ist er schon, der (zweite) Selbstmordversuch gelingt.
Diese vergebliche Suche nach dem richtigen Leben im Falschen wirft ihre Spotlights immer wieder auf Freundschaft und Gefühle, zwei Bereiche, in denen alle Charaktere des Buchs gleichzeitig unglaublich gut (viele Freunde, große Gefühle, etliche Metaphern, wie sie sich durch den Körper ziehen etc.) und unsagbar schlecht (kommunikationsunfähig, nachtragend, leicht beleidigt/beleidigend) erweisen. Es nervt mich zu Tode, wie die Autorin durch die Jahre hastet und aus jedem Fitzel immer bloß die Gefühle herauspresst, überall nur Hoffnungen und Erwartungen, Liebe und Hass und Anhäufungen unnötiger beleidigender Entschuldigungen, aber nie, nirgends, nicht ein einziges Mal schafft es irgendjemand in dieser pseudointellektuellen New Yorker Yuppie-Gesellschaft, einen Gedanken zu entwickeln, etwas auf die Probe zu stellen, zu hinterfragen, bekannte Muster aufzubrechen oder sich selbst zu reflektieren (geschweige denn die Gesellschaft).
Es handelt sich um ein abgrundtief unpolitisches und unphilosophisches Buch, das Wasser auf die Mühlen der Befindlichkeitsrhetorik gießt und mit harten Bandagen in den Ring tritt, um auch dem letzten Skeptiker noch die vermeintliche Relevanz der Äußerung des persönlichen Unbehagens einzuprügeln und die Schuld zu externalisieren (aka das Gegenteil von der Internalisierung des unglücklichen Antihelden der Geschichte). Mich jedenfalls hat dieses Buch komplett abgestumpft, ich freue mich richtig, nicht so viele Freunde und keine so große Verantwortung zu haben und kann mich nur glücklich schätzen, dass das Tindermatch von der Tippgeberin so schnell aufgelöst wurde, dass ich mich vor ihr nicht noch für meine abwertende Meinung rechtfertigen muss.