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Essays

Über das Aufräumen

Reflexion über Genese und Geltung eines notwendigen Übels

Aufräumen ist die anstrengendste Tätigkeit, die ich kenne. Warum ist das so? Zur Beantwortung dieser Frage sollten wir zunächst einmal die Voraussetzungen klären. Wir müssen uns in eine Wohnung hineindenken, die mindestens einen, wahrscheinlich sogar mehrere Monate lang nicht aufgeräumt wurde. Sie zeigt also in allen Räumen vielfältige Spuren der Benutzung, des Schlafens, Essens, Badens, Zähneputzens, Arbeitens, Lesens, Briefverkehrs, Rauchens, Wäschewaschens, Malens, Schreibens, Denkens, Entspannens undsoweiter. Nun ist es Aufgabe des Aufräumens, diese Spuren zu beseitigen, zu ordnen, zu verstecken, „reinen Tisch zu machen“.

Tatsächlich erweist sich diese Aufgabe als ausgesprochen komplex; sie ist in eine Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeiten fragmentiert, die ein hohes Maß körperlicher und geistiger Aktivität erfordern. Geistig müssen die einzelnen Gegenstände etwa in ihrer Bedeutung erkannt werden, die Bedeutungen verlangen Priorisierung und das Trennen oder Zusammenführen einzelner Stapel, es bedarf einer Vorstellung von Zielen, einerseits, wie die Wohnung nachher aussehen soll, andererseits, wo die einzelnen Gegenstände hingehören. Körperlich müssen diese Ziele und mit ihnen die Gegenstände umgesetzt werden, oft etappenweise, erst auf einen Stapel, dann auf einen anderen, bevor sie an ihr Ziel verbracht werden. Zusätzlich benötigen eine ganze Reihe von Gegenständen noch bestimmte Formen der Verarbeitung, Polsterumschläge müssen beispielsweise für den Müll getrennt werden, Adressetiketten zerrissen, Wäsche vom Ständer gefaltet werden. Auch Staubwischen, Spülen, Putzen sind körperliche Tätigkeiten, die sich um die bloße Sortierung der Gegenstände herum gruppieren. Fast das schlimmste ist die Papierarbeit. Stapelweise liegen Briefe und Dokumente herum, die, so ähnlich sie sich äußerlich auch scheinen mögen, doch eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Handlungsaufforderungen in sich bergen. Rechnungen wollen bezahlt, Mieterhöhungen ans Jobcenter weitergeleitet und Eingliederungsvereinbarungen mit der Sozialberatung besprochen werden.

Aufräumen birgt stets auch die Erinnerung: Mist, das wollte ich auch noch tun, es erfordert aber eine Kapazität, die meinem derzeitigen Anliegen, nämlich Ordnung in die Wohnung zu bringen, diametral entgegen steht. Es geht eben nicht bloß um Wegpacken und Wegschmeißen, sondern viele der Zettel liegen ja da, weil man mit ihnen noch etwas tun muss. Broschüren wollte man lesen, ToDo-Listen umsetzen, Stichpunkte nachschlagen oder verschriftlichen. Das Aufräumen bringt uns den ganzen Ballast unseres Lebens vor Augen und zwingt uns, mit ihm umzugehen, ohne ihn zu bearbeiten. Und selbst die kleinen Dinge, die mit einer Überweisung oder einer E-Mail schnell erledigt sind, werden mit ihrer Heterogenität, denn das habe ich mir unter Aufräumen ja nicht vorgestellt, zur Belastung.

Ein anderer Faktor ist die Organisierung der Gebrauchsgegenstände. In zeitgenössischen Aufräumshows a la Marie Kondo lernen wir, dass jeder Gegenstand im Haushalt seinen Platz bräuchte, so dass wir beim Aufräumen für jeden Gegenstand wüssten, wo er (eigentlich) hingehört. Das ist bei mir nicht der Fall. Ich habe zu viele Gegenstände oder zu wenig Platz. Die Bücherregale sind überfüllt, Zeitschriftenordner und Diabeteszeug stehen auf dem Boden, wo Staubsauger oder Wäscheständer hingehören, habe ich noch nie gewusst, Leinwände stapeln sich mit anderem Zeug auf den Schränken und Regalen. Auch die Frage, welche Gegenstände so notwendig sind, dass sie ein Anrecht auf einen Platz auf dem Tisch besitzen, bereitet mir Kopfzerbrechen. Feuerzeug, Aschenbecher, Langzeitinsulin, Nadeln, Laptop sind auf jeden Fall gebucht. Was Stifte, aktuelle beziehungsweise zu bearbeitende Notizbücher, Briefe und Lektüre angeht, bin ich unsicher. Derartige Unsicherheit und der Platz- beziehungsweise Ortsmangel resultieren häufig in einer das gesamte Unterfangen betreffenden Untätigkeit.

Ein weiterer markanter Punkt, der die mit dem Aufräumen verbundene Anstrengung be- und erzeugt, ist die Beantwortung der Frage, für wen und in wessen Geiste die Tätigkeit überhaupt ausgeführt wird. Die Zielvorstellung eines aufgeräumten IKEA-Showrooms bildet ja keineswegs eine intrinsische Motivation. Meine persönliche Toleranzschwelle für Dreck, Staub und Unordnung liegt relativ hoch, soweit ich das beurteilen kann, so dass Aufräumen sich schnell entfremdend, fremdbestimmt und aufoktroyiert anfühlt und (natürlich dumm) rebellische Gegenaktionen auslöst. Ich möchte mich keinem Ordnungsregime unterwerfen, ich schwadroniere von der Wichtigkeit von Gebrauchsspuren und „Leben“ in der Wohnung und ich verallgemeinere die Erfahrung des Status quo, nach der mich ja eh niemand besuchen kommt (es ist ja auch total ungemütlich).

In meiner aktuellen Routine findet der Prozess des Aufräumens keinen Anfang und kein Ende. Alle vier Räume gleichzeitig in einen aufgeräumte Zustand zu bringen, übersteigt meine Kräfte bei weitem. Es sind stets nur kleine Gesten, die ich ausführe, die aber die strukturellen Probleme weitgehend unberührt lassen. Schließlich erfordern diese Probleme mehr als nur Aufräumen: In erster Linie neue Möbel und wahrscheinlich noch einmal eine umfassende (Sperr-)Müllbeseitigung.

Halten wir fest: Aufräumen ist die anstrengendste aller Tätigkeiten, weil sie so viel mehr als Aufräumen ist, weil sie gleichsam Körper und Geist belastet und weil ihr eine Äußerlichkeit zu eigen ist, die ebenso schwer wiegt, wie sie zu greifen ist. Aber implizit habe ich auch erwähnt, was mir helfen könnte. Es bräuchte eine Struktur, die den Gegenständen feste Orte zuweist. Es bräuchte eine Zielvorstellung, die auch Renovierung und Möbelkäufe miteinbezieht. Und zu guter Letzt bräuchte es eine Routine, die den Prozess am besten noch vor der Entstehung heterogener Stapel in Gang setzt.